Im reaktiven Bewusstsein verhaftet sein

Es scheint, dass [chronische] Scham – die man als Ängste und negative Zuschreibungen über das Selbst betrachten kann – besonders problematisch sein kann, da sie Verstecken und Rückzug hervorruft. Dadurch wird der Klient von jeder korrigierenden emotionalen Erfahrung und vom heilenden Trost anderer abgeschnitten.

– Sue Johnson & Leanne Campbell

Ziel bindungsbasierter Therapien wie der Emotionsfokussierten Therapie (EFT) und dem NeuroAffective Relational Model (NARM) ist es, Menschen dabei zu unterstützen, Zugang zu einem verkörperten Bewusstsein zu erhalten. Dieses Bewusstsein bietet eine sichere Basis, um sich sowohl mit sich selbst als auch mit anderen verbunden zu fühlen – ohne dass das eine das andere beeinträchtigt. In diesem Bewusstseinszustand wird das Verhalten nicht mehr von adaptiven Überlebensstrategien gesteuert, sondern entsteht aus dem Kontakt mit den wahren Bedürfnissen, Kernemotionen sowie einem Gefühl von Selbstwirksamkeit (Agency) und Selbstaktivierung. In NARM wird dieser Zustand als „Erwachsenenbewusstsein“ (adult consciousness) bezeichnet, während er in der Schematherapie als „gesunder Erwachsenenmodus“ bekannt ist.

Der innere Konflikt in der Kindheit

Kinder sind von Natur aus auf die Beziehung zu ihren Bindungspersonen angewiesen, um ihre grundlegenden Bedürfnisse nach Sicherheit, Schutz und emotionaler Nähe zu erfüllen. Diese Abhängigkeit ist essenziell für ihr Überleben und ihre gesunde Entwicklung. Um eine stabile Bindung aufrechtzuerhalten, entwickeln Kinder eine positive Sicht auf ihre Bindungspersonen, da diese als zentrale Quelle von Fürsorge und Schutz wahrgenommen werden. Ein negatives Bild der Bindungsperson wäre für das Kind emotional nicht erträglich, da es seine eigene Sicherheit infrage stellen würde.

Wenn die Bindungspersonen jedoch nicht zuverlässig oder emotional unerreichbar sind, geraten Kinder in einen inneren Konflikt: Einerseits benötigen sie die Bindung, andererseits erleben sie Schmerz, Ablehnung oder Vernachlässigung. Um diesen Konflikt zu bewältigen, neigen Kinder dazu, die Verantwortung für die gestörte Beziehung auf sich selbst zu beziehen. Sie entwickeln die Überzeugung: „Es muss an mir liegen. Ich bin falsch oder nicht liebenswert.“ Diese Interpretation schützt das Kind vor der schmerzhaften Erkenntnis, dass die Bindungsperson nicht ausreichend verfügbar ist.

Auf diese Weise entwickelt sich eine tiefsitzende, chronische und oft auch unbewusste Scham, die als eine Art Schutzmechanismus fungiert. Die Scham hilft dem Kind, ein positives Bild der Bindungsperson aufrechtzuerhalten, indem es die Schuld für die Unsicherheit der Bindung auf sich selbst nimmt. Dies ist zwar kurzfristig eine adaptive Überlebensstrategie, führt aber langfristig zu einem tiefen Gefühl von Minderwertigkeit und einem instabilen Selbstwertgefühl.

Scham- und stolzbasierte Identifikation

Wenn Klient*innen mit chronischer Scham oder Stolz leben und ein tief verwurzeltes Gefühl von Minderwertigkeit verspüren, vermeiden sie oft verletzliche Emotionen und wichtige emotionale Themen aus Angst, erneut in eine Position der Hilflosigkeit zu geraten. In diesem emotional abgeschotteten Zustand gibt es wenig Anlass, die durch Scham oder Stolz geprägten Arbeitsmodelle des Selbst zu hinterfragen. Laurence Heller hat für die daraus entstehenden inneren Überzeugungen die Begriffe „scham- und stolzbasierte Identifikation“ eingeführt.

  • Schambasierte Identifikation ist gekennzeichnet durch Selbstkritik, Gefühle der Wertlosigkeit und das Empfinden, grundlegend fehlerhaft zu sein. Häufig führt sie zu selbstsabotierendem Verhalten und Schwierigkeiten, gesunde Beziehungen aufzubauen.
  • Stolzbasierte Identifikation ist ein kompensatorischer Mechanismus, der als Abwehr gegen tiefer liegende Scham entsteht. NARM spricht deswegen auch von „stolzbasierter Gegenidentifikation“. Sie zeigt sich in einem überhöhten Selbstbild, Grandiosität oder Überlegenheitsgefühlen und dient als Schutzbarriere vor schmerzhaften Gefühlen der Unzulänglichkeit.

Reaktives Bewusstsein

Klient*innen, die stark in diesen Identifikationen verhaftet sind, befinden sich oft in einem reaktiven Bewusstseinszustand. Die Schematherapie (ST), entwickelt von Jeffrey Young, ist ein Therapieansatz, der auf kognitiver Verhaltenstherapie, Bindungstheorie und Transaktionsanalyse basiert. Sie unterscheidet insgesamt neun reaktive Bewusstseinszustände oder Modi: vier Kind-Modi, drei maladaptive Bewältigungsmodi und zwei Eltern-Modi. Neben dem gesunden Erwachsenenmodus unterscheiden manche Varianten der Schematherapie noch zwei zusätzliche Modi: den liebevollen Elternmodus und den glücklichen Kindmodus.

Während die Schematherapie mit ihren Wurzeln in der kognitiven Verhaltenstherapie stärker auf Analyse und Kategorisierung setzt, legt NARM mehr Wert auf das erfahrungsorientierte, verkörperte Erleben. NARM beschränkt sich daher auf eine umfassendere Kategorie für die reaktiven Bewusstseinszustände, das „kindliche Bewusstsein“ (child consciousness). Laurence Heller und Brad J. Kammer schreiben dazu in ihrem Buch Praxisbuch Entwicklungstrauma heilen:

Erwachsene, die sich im kindlichen Bewusstsein befinden, haben zu sich selbst und der Welt eine Beziehung, die von Hilflosigkeit und einem fehlenden Gefühl eigener Handlungsmacht geprägt ist. Sie haben das Gefühl, dass ihr Wohl von anderen abhängig sei. Sie erfahren ihr Leben als eingeschränkt und ohne sonderliche Optionen, was dazu führt, dass sie sich nur begrenzt mit Fähigkeiten und Resilienz ausgestattet fühlen. Sie empfinden das regressive Bedürfnis, sich durch diverse Strategien des Sich-Abschneidens vom Kontakt (traditionell als Abwehrmechanismen bezeichnet) vor drohendem Beziehungsverlust zu schützen.

Zwei bindungsbasierte, erfahrungsorientierte Ansätze: EFT & NARM

Bindungsbasierte, erlebnisorientierte Therapieansätze wie NARM (NeuroAffective Relational Model) und EFT (Emotionsfokussierte Therapie) unterstützen Klient*innen dabei, in ihrem erwachsenen Bewusstsein anzukommen und eine tiefe Verbindung zu sich selbst sowie zu ihren Bindungsfiguren aufzubauen. Beide Ansätze beginnen mit einer Stabilisierungsphase, in der der Fokus auf Strukturierung liegt:

  • In EFT werden hierfür hauptsächlich systemische Elemente verwendet, die auf die Deeskalation emotionaler Reaktivität abzielen.
  • In NARM zielen die Interventionen stärker auf die Förderung der Selbstwirksamkeit (Agency) ab.

Erst wenn die Klient*in ausreichend Selbstreflexion und Selbstwirksamkeit entwickelt hat – was in EFT als „Deeskalation“ bezeichnet wird –, entsteht ein sicherer Raum für das Erleben verletzlicher Gefühle.

In der folgenden Umstrukturierungsphase liegt der Fokus darauf, Kernemotionen zu entschlüsseln und den Kontakt zu sich selbst sowie zu Bindungsfiguren wiederherzustellen:

  • In EFT wird hierfür das Sammeln von Affektelementen (Move 2) und die Begegnung mit Bindungsfiguren (Move 3 und 4) eingesetzt.
  • In NARM wird das Modell zur emotionalen Vervollständigung angewendet.

Beide Ansätze verfolgen in dieser Phase das Ziel, die Kernemotionen zu identifizieren und zu verkörpern, die Intention der Emotionen zu verstehen und neue Möglichkeiten im Umgang damit zu schaffen. Dies unterstützt die Klient*in dabei, sich von scham- oder stolzbasierten Identifikationen zu lösen, zu einem authentischeren Selbst zu finden und eine sichere Bindung mit anderen aufzubauen.

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