Bindungsorientierte Psychotherapie bei „Kindern der emotionalen Vernachlässigung“

Ruth Cohns Buch,, Working with the Developmental Trauma of Childhood Neglect: Using Psychotherapy and Attachment Theory Techniques in Clinical Practice, – Stand 2025 leider noch nicht in deutscher Übersetzung verfügbar – ist ein äußerst lesenswertes Werk über die psychotherapeutische Arbeit mit Klient*innen, die in ihrer frühen Kindheit emotionale Vernachlässigung erlebt haben. Eine ihrer wichtigsten Schlussfolgerungen über die Arbeit mit „Kindern der Vernachlässigung“ teilt sie im zehnten Kapitel:

Bei all dem, was gesagt wurde, bleibt dennoch festzuhalten, dass es keinen Ersatz für eine gute, solide Psychotherapie mit einer sensiblen, präsenten und gut eingestimmten Therapeut*in gibt. Obwohl Gesprächstherapie allein für Klient*innen mit Vernachlässigungserfahrungen nicht ausreicht, ist sie dennoch gleichermaßen essenziell. Der Kern der fehlenden Erfahrungen liegt in den Versäumnissen, der Unzulänglichkeit oder der Unvorhersehbarkeit der primären Bezugsperson. Alles, was wir tun, um dies zu reparieren, ist grundlegend und ein fortlaufender Prozess.

Die Einsicht, dass bei der Arbeit mit Klient*innen, die in ihrer Kindheit emotionale Vernachlässigung erfahren haben, ein bindungs-, körper- und erfahrungsorientierter Ansatz unerlässlich ist, deckt sich mit unseren Praxiserfahrungen in der Emotionsfokussierte Therapie (EFT) und das NeuroAffective Relational Model (NARM®). Ein klares Beispiel dafür ist eine Intervention, in der Ruth Cohn mit Emotionen arbeitet und als vorübergehende Bindungsfigur ihre Wahrnehmung mit ihrer Klientin teilt:

„Wenn ich in deine Augen schaue und dort eine Spiegelung von mir sehe – eine lächelnde, warme Spiegelung, als ob ich eine Quelle von Freude und Erfüllung bin –, dann empfinde ich Freude, Erfüllung und Ruhe.“

„Wenn ich Angst habe und in deine Augen schaue und dort eine Spiegelung meiner Angst sehe, und du etwas Tröstendes sagst oder tust, werde ich mich nicht nur getröstet, sondern auch gesehen, verstanden und umsorgt fühlen – wieder wertgeschätzt und verbunden. Und ich lerne dabei über die Emotion, das Bedürfnis und die Reaktion auf dieses Bedürfnis.“

Diese Intervention könnte auch als Beispiel einer „Move 3“-Intervention zwischen Therapeut*in und Klient*in aus einem Textbuch zur bindungsbasierten EFT stammen. Viele Erfahrungen und Einsichten, die Ruth Cohn in ihrem Buch beschreibt, werden daher für erfahrene EFT- oder NARM-Therapeut*innen in der Arbeit mit Klient*innen mit einem vermeidenden Bindungsstil / einer Kontakt-Überlebensstruktur nicht neu sein.

Warum dieses Buch dennoch sehr empfehlenswert ist

Ruth Cohn begann in den frühen Achtzigerjahren als Paar- und Einzeltherapeutin zu arbeiten. Ihre Arbeit mit „Kindern der emotionalen Vernachlässigung“ umfasst also fast vier Jahrzehnte, in denen sie verschiedene Ansätze erlernt, integriert und teilweise bis heute angewendet hat. Das Buch bietet neben zahlreichen Fallbeispielen und Einsichten aus der Arbeit mit Entwicklungstraumata auch ein persönliches Zeugnis von 40 Jahren Entwicklung in der Traumatherapie.

  • Bindungstheorie * späte 1950er Jahre
    Entwickelt von John Bowlby, beschreibt sie, wie frühe emotionale Bindungen die Entwicklung prägen. Sichere Bindungen fördern Vertrauen und Stabilität, unsichere Bindungen können zu dauerhaften emotionalen Herausforderungen in engen Beziehungen führen. Mary Ainsworth ergänzte die Theorie in den 1970er Jahren mit der Identifikation verschiedener Bindungsstile.
  • Bessel van der Kolks Arbeit * frühe 1980er Jahre
    Die Forschung von Bessel van der Kolk betont die Verbindung zwischen Trauma und der Beziehung zwischen Gehirn und Körper. Seine Methoden integrieren Techniken wie Achtsamkeit, Körperwahrnehmung und erfahrungsbasierte Therapien, um zu bearbeiten, wie Trauma im Körper gespeichert wird, und Betroffenen zu helfen, überwältigende Erfahrungen zu verarbeiten.
  • Somatische Therapie
    • Somatic Experiencing (SE) * 1970er Jahre
      konzentriert sich darauf, Trauma, das im Körper gespeichert ist, zu lösen und aufzuarbeiten. Dabei werden Klient*innen behutsam angeleitet, unterdrückte Kampf-Flucht-Erstarrungs-Reaktionen, die während des ursprünglichen Traumas blockiert wurden, abzuschließen.
    • Sensorimotor Psychotherapy (SP) * 1980er Jahre
      kombiniert körperzentriertes Bewusstsein mit Gesprächstherapie, um Klient*innen bei der Verarbeitung von Trauma durch ihre körperlichen Empfindungen und Bewegungen zu unterstützen.
  • Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR) * 1990er Jahre
    EMDR ist eine strukturierte Therapie, die Klient*innen dabei hilft, traumatische Erinnerungen mithilfe von bilateraler Stimulation (z. B. Augenbewegungen) zu verarbeiten und zu integrieren. Sie verringert die emotionale Belastung belastender Erinnerungen, ermöglicht eine Neubewertung negativer Glaubenssätze und reduziert Trigger.
  • Neurofeedback * 2000er Jahre, frühe Grundlagen 1970er Jahre
    Neurofeedback nutzt die Echtzeitanalyse der Gehirnaktivität, um Klient*innen dabei zu helfen, ihre Gehirnfunktionen zu regulieren. Durch die Verstärkung gesünderer Muster unterstützt es die emotionale Regulation, reduziert Angstzustände und stabilisiert das Nervensystem, das bei Trauma oft dysreguliert ist.
  • Entheogene (halluzinogene) unterstützte Psychotherapie * 2000er Jahren
    Diese Methode nutzt Substanzen wie Psilocybin oder MDMA, um therapeutische Prozesse zu vertiefen. In einem sicheren, professionell begleiteten Rahmen können Klient*innen tief verwurzelte emotionale Blockaden lösen, ein erweitertes Bewusstsein erfahren und Zugang zu heilenden inneren Ressourcen erhalten.
  • Deep Brain Reorienting (DBR) * 2010er Jahren
    DBR zielt auf tiefere Gehirnbereiche ab, in denen die ursprünglichen traumatischen Prägungen gespeichert sind, insbesondere im Zusammenhang mit Bindungsstörungen. Es hilft Klient*innen, die zugrunde liegenden emotionalen und physiologischen Reaktionen auf Trauma zu verarbeiten und fördert eine tiefere Heilung auf der Ebene des Hirnstamms.

Offenherziges Gespräch mit einer erfahrenen Kollegin

Das Buch liest sich wie ein bestätigendes und offenherziges Gespräch mit einer erfahrenen Kollegin. Eine Zusammenfassung der Kapitel, um die Reichweite der behandelten Themen zu illustrieren:

Das Unsichtbare wahrnehmen: Das „Kind der Vernachlässigung“ erkennen

Durch das Erkennen der subtilen Anzeichen von Vernachlässigung, z. B. im Blickkontakt, unterstützt die Therapeut*in die Klient*in, nicht gesehene und unerfüllte Bedürfnisse anzuerkennen. Dies ermöglicht eine erste Verbindung zu verdrängten Erfahrungen und eröffnet einen Weg zur Heilung.

Die therapeutische Beziehung: Eintritt in eine Ein-Personen-Welt

Die therapeutische Beziehung schafft einen sicheren Raum, in dem die Klient*in sich verstanden und unterstützt fühlt. Dies ermöglicht es, Vertrauen aufzubauen, das als Basis dient, um emotionale Isolation und Selbstschutzmuster zu überwinden.

„Aber mir ist doch nichts passiert!“: Was ist die Geschichte?

Indem die Therapeut*in hilft, eine narrative Struktur für das scheinbar „leere“ Erleben der Klient*in zu entwickeln, können verborgene Verletzungen und emotionale Defizite sichtbar gemacht werden. Dies schafft ein Gefühl von Sinnhaftigkeit und Verständnis des Selbst.

Emotionen: Eine Fremdsprache lehren

Die Bottom-up-vermittlung eines emotionalen Vokabulars ermöglicht es der Klient*in, Gefühle besser zu erkennen, zu benennen und auszudrücken. Dadurch können emotionale Bedürfnisse klarer kommuniziert und tiefergehende Verbindungen aufgebaut werden.

Sexualität: Das Rätsel der Bedürfnisse entschlüsseln

Sex vereint Körper, Geist und Beziehung auf eine Weise, die komplex, herausfordernd und faszinierend ist. Die Auseinandersetzung mit Sexualität in der Therapie hilft der Klient*in, die komplexe Verbindung zwischen Körper, Emotionen und Beziehungen zu verstehen. Dies fördert die Heilung von Scham und Tabus und stärkt ein gesundes, selbstbestimmtes Erleben von Bedürfnissen.

Regulation des Gebens: von Groll zur Gegenseitigkeit

Durch die Arbeit an der Balance von Geben und Empfangen lernt die Klient*in, in einem Meer der Hilflosigkeit Agency zu entwickeln und ihre Bedürfnisse klar zu formulieren – ihre Stimme zu finden. Gleichzeitig in Beziehungen offener und großzügiger zu agieren, was zu emotionaler Verbundenheit führt.

Scham transformieren durch Trauer und Mitgefühl

Die Umwandlung von Scham durch Trauerarbeit und Mitgefühl ermöglicht es der Klient*in, sich selbst anzunehmen und eine „Rückgrat“ zu finden, das Gegenteil von Scham. Dies schafft Raum für Selbstakzeptanz und tiefere emotionale Verbindungen.

Es ist immer entscheidend, das Instrument gestimmt zu halten!

Die Therapeut*in muss stets achtsam und eingestimmt darauf sein, was die therapeutische Beziehung über frühe Bindungserfahrungen kommuniziert oder zu kommunizieren versucht – einschließlich der nonverbalen Signale: Reinszenierungen, Körpersprache, ein Tonfall, der nicht mit dem Inhalt übereinstimmt, und Gefühle in der Therapeut*in, die sich merkwürdig fremd anfühlen. Sie kann vielleicht nicht immer darüber mit der Klient*in sprechen, aber sollte sie bemerken und sie nach Möglichkeit nutzen.

Was fehlt?

Ruth Cohns Buch ist kein methodisches Lernbuch. Zwei Beispiele: Die Bindungswissenschaft und die Arbeit mit Emotionen nehmen zwar eine zentrale Rolle ein, doch fehlt eine strukturierte Einbettung von Begegnungen zwischen Bindungsfiguren, wie sie in der EFT-Tango-Makrointervention aus der bindungsbasierten EFT herausgearbeitet ist.

Ebenso werden die Arbeit mit Scham und Agency in den Kapiteln über die „Regulation des Gebens“ und „Scham transformieren“ besprochen, jedoch fehlt ein strukturierter Überblick zu Agency-orientierten Interventionen, wie sie in der dritten Säule von NARM herausgearbeitet werden.

Was es bietet

Was Working with the Developmental Trauma of Childhood Neglect jedoch von Herzen empfehlenswert macht, ist der Schatz an Erfahrungen und Einsichten aus der bindungsbasierten, somatischen und neurowissenschaftlich fundierten Arbeit mit Entwicklungstraumata durch emotionale Vernachlässigung. Für viele von uns Therapeut*innen zählen Klient*innen mit solchen Erfahrungen zu den schwierigsten, mit denen wir arbeiten – und genau deshalb ist dieses Buch so wertvoll.

Für EFT-Paartherapeut*innen unterstreicht Ruth Cohns Beschreibung der Arbeit mit Paaren eindrücklich auch unsere Erfahrungen mit dem Wert der EFT-Paartherapie.

Die Arbeit mit Paaren bietet die Gelegenheit, das Bindungsverhalten der Klient*in live zu erleben – von außen und in Bezug auf jemanden, der ihnen in den meisten Fällen wirklich wichtig ist. Es kann auch das erste Mal sein, dass sie die Erfahrung machen, eine*n Fürsprecher*in zu haben – jemanden, der sieht, was sie zu kommunizieren versuchen, und ihnen hilft, dies ebenfalls zu erkennen, auch wenn sie sich dessen nicht bewusst sind. Sie sehnen sich danach, gesehen und gehört zu werden, sind aber oft nicht im Kontakt mit dem, was sie verzweifelt mitteilen möchten, oder damit, wie unvollständig, vage, nonverbal, spärlich oder kaum hörbar ihre Ausdrucksweise ist. Eine Therapeut*in, die in der Lage ist, die Dinge so weit zu verlangsamen, dass sie bemerkt, fragt und versucht, die Äußerungen in eine Form zu „übersetzen,“ die die Partner*in hören kann, ist von unschätzbarem Wert. Trotz ihrer eigenen Widerstände beginnt das vernachlässigte innere Kind aufzublühen wie eine durstige Pflanze. Und die Partner*in, die sich nach einer Verbindung von „Herz zu Herz“ sehnt, fühlt sich unendlich stärker zu ihr hingezogen, wird großzügiger und interessierter. Mit etwas Glück beginnen sich so ihre tiefsten Bedürfnisse, nämlich sich gesehen und gewollt zu fühlen, sich zu erfüllen.

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