Scham- und stolzbasierte Überlebens­strategien

Viele von uns haben noch nie eine wirklich gute Liebesbeziehung gesehen.
Wir versuchen, etwas zu erschaffen, das wir nie erlebt haben.
Wir versuchen, eine Sprache zu sprechen, die wir nie gelernt haben.
Es ist kein Wunder, dass es so schwer ist.
– Sue Johnson

Eine grundlegende Veränderung bei Kindern ohne sichere Bindung ist die Entwicklung chronischer Scham. Obwohl John Bowlby bereits die Basis für diese Erkenntnis legte, wurde die Idee von Scham als Strategie zur Aufrechterhaltung von Beziehungen zu Bindungsfiguren erst durch die späteren Arbeiten von Donald Winnicott und Mary Main weiter ausgearbeitet. Winnicotts Konzept des „falschen Selbst“ steht in engem Zusammenhang damit, und Mary Mains Forschung zur desorganisierten Bindung beleuchtet den tiefen inneren Konflikt und das Potenzial für Scham bei Kindern, die sich nicht auf eine sichere Bindung verlassen können. Der zeitgenössische Forscher Allan Schore hat umfassend beschrieben, wie frühe Bindungstraumata zu chronischen Schamgefühlen führen können.

In seinem Buch Shame: The Exposed Self (1992) diskutiert Michael Lewis, wie eng Stolz und Scham miteinander verknüpft sind und wie exzessives Streben nach Stolz auf ein fragiles oder instabiles Selbstgefühl hinweisen kann. Lewis schlägt vor, dass Individuen, die stark auf externe Bestätigung angewiesen sind, um Stolz zu empfinden, oft ein chronisches Muster der Selbstüberhöhung entwickeln. Dies ist ein maladaptiver Mechanismus, der echtes Selbstwertgefühl und persönliches Wachstum behindert. Chronischer Stolz fungiert als kompensatorischer Schutzmechanismus gegen tiefere Scham und äußert sich in einem überhöhten Selbstbild, in Grandiosität, Überlegenheitsgefühlen und zwanghafter Abwertung anderer, die als Schutzbarriere vor schmerzhaften Gefühlen der Unzulänglichkeit dienen.

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Scham- und stolzbasierte Identifikationen

Die folgende Tabelle gibt Beispiele, wie jedes Grundbedürfnis, das durch unsichere Bindung dauerhaft unerfüllt bleibt, sowohl scham- als auch stolzbasierte Überlebensstrategien auslösen kann.

Ich brauche…
(ein Bedürfnis)
habe aber gelernt, dass es sicherer ist … 
(eine stolz- oder schambasierte Bewältigungsstrategie)
es, mit mir selbst und anderen in Verbindung zu sein, z. B. um gemeinsam zu trauern,(Stolz) Gefühle zu verdrängen und in den Kopf zu gehen oder (Scham) in mich selbst zu kollabieren.
eine auf meine Bedürfnisse eingestimmte Reaktion,(Scham/Stolz) verletzliche Bedürfnisse nicht zu zeigen und stattdessen zu versuchen, diese durch reaktives Verhalten erfüllt zu bekommen.
es, autonom und authentisch sein zu können,(Stolz) mich selbst aufzuopfern oder (Scham) einfach eine Enttäuschung zu sein.
es, anderen vertrauen zu können,(Stolz) die Stärkste zu sein und zu kontrollieren oder (Scham) mich kleinzumachen und mitzulaufen.
es, mich liebenswert zu fühlen,Liebe zu romantisieren oder rigide zu versuchen, mich selbst liebenswert zu machen und die Kontrolle zu behalten.

Sieben emotionale Systeme mit ihren spezifischen Bedürfnissen, die, wenn dauerhaft unbefriedigt, zu scham- und stolzbasierter Identifikation führen, können eine Vielzahl an Überlebensstrategien zur Folge haben.

  • Sue Johnson hat bei der Entwicklung der Emotionsfokussierten Therapie (EFT) bewusst einen parsimonischen Ansatz gewählt, indem sie nur die zwei häufigsten, grundlegenden Überlebensstrategien benannte: „pursue“ (Kritisieren/Verfolgen) und „withdraw“ (Rückzug/Vermeiden). Diese Entscheidung war nicht zufällig, sondern strategisch darauf ausgelegt, das EFT-Modell so einfach und klar wie möglich zu halten, um den Fokus auf die emotionale Dynamik und die zugrunde liegenden Bindungsbedürfnisse der Klient*innen zu lenken, ohne sich in komplexen Analysen zu verlieren.
  • Inspiriert von der Arbeit von Wilhelm Reich unterscheidet das NeuroAffective Relational Model (NARM) nach Laurence Heller fünf Überlebensstrategien. Jede dieser Strategien hat einen scham- und einen stolzbasierten Typus, wobei für die stolzbasierte Variante noch zwei Subtypen unterschieden werden. Insgesamt ergibt dies etwa 20 verschiedene Überlebensstrategien im NARM-Ansatz.
  • Die Schematherapie (ST), die von Jeffrey Young aus der kognitiven Verhaltenstherapie (KVT) entwickelt wurde, basiert neben der Bindungstheorie auch auf Elementen aus der Transaktionsanalyse und Gestalttherapie. Sie wird oft als die „3. Welle“ oder „emotionale Wende“ in der Verhaltenstherapie bezeichnet. Die 18 Überlebensstrategien oder Schemata, die in der Schematherapie unterschieden werden, leiten sich jedoch nicht direkt aus den Grundbedürfnissen ab, sondern basieren eher auf Symptomgruppen und den Ego-States der Transaktionsanalyse. Daher lassen sich die unterschiedlichen ST-Schemata nicht direkt den Überlebensstrategien im NARM zuordnen.

Zwei bindungsbasierte, erfahrungsorientierte Ansätze: EFT & NARM

Sowohl die bindungsbasierte Emotionsfokussierte Therapie (EFT) als auch das NeuroAffective Relational Model (NARM) helfen Klient*innen, einen flexibleren Umgang mit ihren Überlebensstrategien zu entwickeln, im erwachsenen Bewusstsein anzukommen und sowohl in Kontakt mit dem eigenen Selbst als auch in Beziehung mit Bindungsfiguren zu treten.

Beide Modelle nutzen dazu einen explorativen Prozess:

  • In EFT geschieht dies in Move 2, dem Sammeln von Affektelementen.
  • In NARM findet dieser Prozess in der zweiten Säule, dem Stellen von explorativen Fragen, statt.

Eine EFT-Therapeut*in betrachtet daneben das Geschehen mit einer „Bindungsbrille“ und „säet Bindungssamen“. Sie macht die durch Angst blockierten Bindungswünsche und Verhaltensweisen explizit und zeichnet ein Bild von möglichen Beziehungsinteraktionen, bei denen Koregulation mit Bindungsfiguren entsteht, indem verletzliche Gefühle gezeigt werden, was eine mitfühlende Reaktion auslöst.

In NARM unterstützen alle Interventionen, die auf die Förderung von Selbstwirksamkeit (agency) abzielen, gleichzeitig auch die Disidentifikation von scham- und stolzbasierten Identifikationen.

Wenn Klient*innen lernen, ihre Überlebensstrategien zu erkennen und zu verändern, entsteht Raum für tiefergehende therapeutische Arbeit und nachhaltige Heilung.

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